Weg am Fluss

Sich auf den Weg machen

Von menschlichen Bedürfnissen und unseren Versuchen, sie zu erfüllen

 
Vor ein paar Wochen habe ich über Sehnsüchte und Wünsche geschrieben. Warum entstehen sie eigentlich in uns? Warum haben wir so oft dieses drängende Gefühl, dass uns etwas fehlt im Leben? Eine vollständige Antwort habe ich sicher nicht darauf. Aber ist es gut zu wissen, dass in jedem Menschen die gleichen Grundbedürfnisse liegen. Sie begleiten uns durch unser Leben und können zum Teil ein Auslöser für unsere Sehnsüchte sein.

Es gibt ganz unterschiedliche Definitionen für “Grundbedürfnisse”. Ich möchte mich hier auf die seelischen Grundbedürfnisse beschränken. Genauso bei wie den körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung und Wasser, kann der Mensch nur gut leben, wenn auch die seelischen Bedürfnisse ausreichend erfüllt sind. Wir spüren – manchmal sehr früh, manchmal leider erst sehr spät -, wenn eines oder mehrere der Bedürfnisse zu kurz kommen – durch Hunger oder Durst, wenn unsere körperlichen Bedürfnisse nicht befriedigt werden, oder durch Gefühle wie Langeweile und Frustration bis hin zu Einsamkeit, Hilflosigkeit, Verzweiflung.

Fehlt etwas im Leben, treibt dieses Gefühl manche Menschen an, den Grund aufspüren zu wollen und etwas dagegen zu tun. Bei anderen führt es im schlimmsten Fall dazu, dass sie unzufrieden und unglücklich werden und anderen Schuld für die gefühlte Differenz zuschieben.

Was mich innerlich bewegt

Für mich ist die Einteilung von Klaus Grawe wichtig geworden, der folgenden Grundbedürfnisse nennt:

  • das Bedürfnis nach Orientierung im Leben,
  • das Bedürfnis nach Beziehungen und Bindungen,
  • das Bedürfnis, Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden, und
  • das Bedürfnis nach Selbstwert und danach, diesen zu bewahren.

Ergänzen möchte ich dazu aus meiner Logotherapieausbildung das Bedürfnis, neue Dinge zu entdecken, Eindrücke in sich aufzunehmen und sich selbst auszudrücken in dieser Welt. Über all diesen Bedürfnissen schwebt das Streben des Menschen danach, die Erfüllung der anderen Bedürfnisse – und damit auch sein eigenes Leben – selbst unter Kontrolle zu haben und einen Sinn dahinter zu sehen.

Wie wirkt sich das in unserem Leben aus? Mir ist, als ich diese Frage in einer Prüfung während der Ausbildung beantworten sollte, eine Bergtour eingefallen, um die einzelnen Bedürfnisse genauer anzuschauen und auf das eigene Leben zu übertragen:

Vorbereitung ist alles

Bei der Planung einer Bergtour möchte ich vorher recht genau wissen, welche Wege ich nehmen werde, wie diese in etwa beschaffen sein werden, wie lange es dauern wird, bis wir ankommen. Eine Karte zur Orientierung gehört für mich unbedingt mit in den Rucksack, damit ich mich unterwegs zurechtfinde und gegebenenfalls umplanen kann. Wenn ich mich nicht orientieren kann, fühle ich mich nicht wohl auf der Reise und habe das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.

Am schönsten sind Bergtouren, wenn man sie nicht alleine macht. Klar, es tut auch einmal gut, alleine einen Weg zu gehen. Eine Wanderung in der Gruppe ist aber nicht nur sicherer, weil ich im Falle eines Problems unterwegs jemanden habe, mit dem ich dieses Problem gemeinsam lösen kann, und der motivieren kann weiterzugehen. Ich habe auch jemanden dabei, mit dem ich dieses Erlebnis teilen kann.

Egal ob ich alleine oder mit jemand anderem gehe, ich werde mir nur eine Tour aussuchen, die ich schaffen kann. Ich will ja nicht scheitern oder sogar mein Leben riskieren. Meine Begleitung suche ich mir danach aus, ob dem anderen diese Art der Bergtour liegt und sie ihm Freude bereiten wird. Eine Herausforderung darf es schon sein, aber in ein aussichtsloses Unterfangen würde ich nicht starten.

Eindrücke, die ich weitergeben will

Nicht nur das Ankommen ist wichtig, sondern auch der Weg dorthin. Die vielen Eindrücke, die ich unterwegs sammeln kann, speichern sich tief in meinem Gedächtnis ab. Ich lasse mich berühren von der Landschaft, von der Weite, die sich meinem Blick eröffnet. Dass ich ein kleiner Teil dieser wunderbaren Welt sein darf, macht mich dankbar und wirkt tief. Oft wirkt dieses Erlebnis einer Bergtour so tief, dass ich darüber erzählen möchte. Auch noch Wochen oder Jahre später fallen mir Ausschnitte der Tour wieder ein, die mich besonders beeindruckt haben – sei es, weil sie durch besonders schöne Landschaften führten oder weil sie besonders anstrengend waren und mich an meine Grenzen gebracht haben.

Auf neuen Pfaden

Jede Bergtour ist immer anders als die letzte. Selbst wenn ich eine Strecke noch einmal laufe, sind vielleicht bei diesem Mal andere Menschen dabei. Oder es ist eine andere Jahreszeit und die Natur zeigt sich von einer anderen Seite. Ich erlebe den Weg immer neu und werde ihn nie zweimal genau gleich gehen. Auch meine Tagesform kann alles leichter oder mühsamer erscheinen lassen als beim letzten Mal. Am schönsten ist es aber, neue Wege zu gehen. Die Berge, die Welt zu erobern, neue Gegenden zu entdecken, neue Ausblicke zu genießen, neuen Menschen zu begegnen.

Mit einem Ziel im Kopf

Eine Bergtour startet immer damit, dass ich mir ein Ziel definiere, wo ich überhaupt hinlaufen möchte. Ohne ein Ziel laufe ich nicht los. Auf das Leben übertragen ist das nicht immer einfach zu beantworten. Wenn ich nicht weiß, wo ich ankommen möchte, kann ich den Weg nicht planen. Dann weiß ich nicht, was ich mitnehmen muss, was auf mich zukommen wird, ob ich dem gewachsen sein werde. Vielleicht finde ich auch niemanden, der mitkommen möchte, und ich kann auch gar nicht sagen, wer überhaupt die richtige Begleitung wäre.

Ohne Ziel drehe ich mich im Kreis oder irre herum, weil ich bei jedem Schritt überlegen muss, welches der nächste und danach wieder der nächste Schritt ist. Weit komme ich so nicht. Oder ich laufe erst gar nicht los. Habe ich kein eigenes Ziel im Leben, suche ich mir vielleicht das Ziel eines anderen aus. Ich versuche,  seinen Weg zu gehen, aber passt dieser Weg zu mir und meiner Kondition und meinem Können?

Wissen, wo man steht

Um Orientierung in meinem Leben zu bewahren, frage ich mich ab und zu, ob ich denn noch weiß, wohin ich gerade gehe. Bin ich noch auf dem richtigen Weg zu dem Ziel, dass ich erreichen wollte? Habe ich genügend Kraft und Proviant für die kommende Etappe? Habe ich vielleicht einen alternativen Weg, den ich gehen kann, wenn der vor mir versperrt ist oder doch steiler als gedacht sein sollte?

Warte ich gerade darauf, dass mir jemand zeigt, wie es weitergeht? Oder habe ich eine eigene Karte dabei, um mich selbst zurechtzufinden und die nächsten Schritte zu planen? Würde ich alleine weiter gehen können, wenn derjenige plötzlich nicht mehr da wäre?

Gemeinsam ein Stück des Weges gehen

Gemeinsam ist jeder Weg leichter. Das Leben in die eigene Hand zu nehmen heißt nicht, es alleine bewältigen zu müssen. An manchen Stellen in den Bergen und auch im Leben ist es einfacher, wenn man diese gemeinsam bewältigen kann oder sich gegenseitig absichert beim Gehen. Aber ich sollte auch Teile des Weges alleine laufen können, wenn derjenige, der mit mir läuft, vielleicht einmal einen anderen Weg einschlagen möchte, länger rasten oder vielleicht auch schneller weiterlaufen möchte.

Sind die Menschen um mich herum gute Wegbegleiter? Lasse ich mich von ihnen ziehen oder aufhalten? Treiben sie mich dazu, Wege zu gehen, die ich selbst nicht beschreiten würde? Macht mir das Angst oder überfordert es mich? Oder eröffnen sich mir so vielleicht Gegenden, in die ich mich nie selbst getraut hätte? Vielleicht erkenne ich ja dadurch auch, dass ich meine Möglichkeiten unterschätzt habe und mehr kann, als ich mir zugetraut habe!

Wie eine Bergtour soll mich mein Leben nicht unterfordern und langweilen. Sonst erschließt sich mir der Sinn nicht, weiterzulaufen oder überhaupt erst loszugehen. Es soll mir neue Möglichkeiten und Herausforderungen bringen, die mich wachsen lassen, mir neue Eindrücke ermöglichen, die meinen Horizont erweitern. Es darf mich aber auch nicht überfordern und mich in Gefahr oder gar an einen Abgrund bringen. Genauso wenig sollte es Menschen um mich herum, die mich begleiten, überfordern oder sie zurücklassen.

Ich muss für mich selbst die Verantwortung übernehmen, die nächste Etappe zu planen. Ich kann mich inspirieren lassen von den Erlebnissen anderer oder mich einladen lassen, sie auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten. Aber ich muss den Weg immer auch zu meinem Weg machen. Das Leben zu meinem Leben machen.

Der Blick zurück

Oft erinnert man sich nach einer anstrengenden, eventuell sogar schmerzhaften Etappe beim Blick zurück zuerst nur an die Strapazen des Weges. Hat man sich von diesen ein wenig erholt, kann sich der Blick darauf öffnen, was es auf dem Weg trotz allem zu erleben und zu sehen gab. Auf jedem Weg wächst man ein Stück über sich hinaus. Man hat die Möglichkeit etwas Neues zu erfahren über sich und über seine Umwelt, wenn man nur die Augen dafür öffnet. Dies gilt es zu entdecken, um Kraft, Mut und Vertrauen in sich selbst für die nächste Etappe zu sammeln und seine Scheunen der Erinnerungen zu füllen.

Der Blick nach vorne

Aus all meinem Erlebten ergeben sich neue Perspektiven und Möglichkeiten, weitere Ziele zu planen. Ein Leben ohne Ziel, ohne zumindest einen grobe Vorstellung, was ich in den nächsten Wochen oder Jahren erreichen oder erleben will, dreht sich jeden Tag ziellos um sich selbst und kommt nicht vom Fleck. Es müssen nicht immer die großen Entfernungen sein, die ich zurücklegen will. Die hochgesteckten Ziele, die ich erreichen will.

Ein Ziel kann auch einmal sein, an einem Ort eine Weile zu verweilen und ihn wirken zu lassen, zu erkunden, zu genießen. Sich dort zu erholen und daran zu reifen, indem man die letzten Etappen Revue passieren lässt. Wenn die Zeit aber gekommen ist, gilt es, sich neu zu orientieren, nach vorne zu schauen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und mit den richtigen Menschen das nächste Teilstück zu planen und anzugehen.

Und irgendwann werden wir angekommen sein an unserem letzten Ziel. Was auch immer das für den Einzelnen sein mag.

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