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Bilder prägen unser Tun

Von Bildern und Vorbildern für ein gutes Miteinander

 

In den letzten Monaten stoße ich immer häufiger auf Texte und Vorträge über Themen, bei denen ich denke: „Ja, stimmt eigentlich. So habe ich das noch gar nie bewusst wahrgenommen.“ Ich schreibe hier extra „bewusst“ wahrgenommen, weil ich ganz oft das Gefühl habe, dass ich gerade Worte für etwas geschenkt bekommen habe, was ich eigentlich schon wusste. Es ist ein tieferes Verstehen von etwas Bekannten und das freut mich immer wieder sehr.

In meiner Logotherapie-Ausbildung begegnete mir neulich in einem Seminarblock ein Thema über Bilder. Wir hatten bereits ein paar Übungen zu Imaginationen gemacht, als das Thema auf einen Aspekt kam, der mir so noch nicht bewusst war. Nämlich wie Bilder unser Leben steuern.

Eine Vorstellung haben vor dem Handeln

Vor jeder Handlung entsteht in unserem Gehirn erst ein Bild dieser Handlung. Das kann ein Bild für einen Bewegungsablauf sein oder für das Bestehen einer bestimmten Situation, also für ein Verhalten. Das Bild muss in unserem Kopf bereits vorhanden sein, damit wir es abrufen können. Haben wir kein passendes Bild verfügbar, können wir die Handlung nicht ausführen und wissen nicht, wie wir handeln sollen. In extremen Situationen übernehmen dann die alten Instinkte das Steuerrad: Wir flüchten, wir greifen an oder wir stellen uns tot.

Wenn nun nicht gerade ein Säbelzahntiger vor mir die Zähne fletscht im normalen Alltag, habe ich die Möglichkeit nachzufragen, wie etwas geht, oder mir selbst eine Lösung zu überlegen. In beiden Fällen steht mir dann diese neue Idee als mögliches Bild zur Verfügung, das abgerufen werden kann, wenn ich es wieder benötige.

Wenn ich gerade etwas gelernt oder erfahren habe, muss ich nachdenken, um es umzusetzen. Es ist noch keine Gewohnheit geworden, ich habe mir das Bild noch nicht zu eigen gemacht. Ich weiß auch vielleicht noch nicht immer gleich, ob es denn zu mir und zu meinen anderen Bildern passt, die ich bereits im Kopf habe. So können neue Verhaltensweisen, die ich mir anzueignen versuche, sich zu Beginn sehr ungewohnt anfühlen und wie nicht stimmig zu mir sein.

Lernen von Vor-bildern

Diese Idee oder dieses Wissen, dass ein Bild einer Handlung vorausgeht, begegnet mir, seitdem ich mich mehr damit beschäftige, ständig. Beim Klettern habe ich es mit anderen Worten schon vorher formulieren können, weil es sich um einen klassischen Lernprozess von Bewegungen handelt: Neue Kletterstellen fordern manchmal intensives „kramen im Schatz des eigenen Bewegunsrepertoires“ – was nichts anderes ist, als ein Bild davon zu haben, wie ich mich bewegen muss, um die Stelle überwinden zu können. Oder jedenfalls, wie es eventuell gehen könnte. Geht es nicht so, wie erdacht, brauche ich eine neue Idee.

Ich selbst lerne viel durch Zuschauen. Ich schaue mir eine Idee ab – vielleicht bei mehreren anderen – und wähle dann das Bild aus, das für mich am stimmigsten ist und das für mich umsetzbar ist. Dabei hat das Wort Vor-Bild nun für mich eine neue Bedeutung bekommen.

Ein „Vorbild“ war für mich immer die ganze Person, weil man ja gefragt wird: „Wer ist dein Vorbild?“ Für mich schwang in dem Wort immer mit, dass man vielleicht ein bisschen so sein möchte wie der andere. Etwas tun  möchte, was der andere auch tut, weil das gefällt oder gut ist. Und irgendwie muss man denjenigen schon im Ganzen mögen, damit man ihn als Vorbild bezeichen kann.

Vor-leben

Aber eigentlich haben wir in unserem ganzen Leben ständig Vor-Bilder: Sobald ich mir von jemandem etwas abschaue beim Klettern, ist seine Bewegung ein Vor-Bild für mich. Wenn ich jemanden bewundere dafür, wie er souverän mit einer Situation umgeht, ist sein Handeln ein Vor-Bild, auch wenn ich den Mensch an sich nicht sonderlich sympathisch finde. Ich übernehme ja nur das Bild von der Handlung von ihm für mich und nicht seinen Character. Wenn ich gelassen mit einer Schwäche von mir umgehe, weil ich gelernt habe, dass ich nicht perfekt bin und auch nicht perfekt sein muss – auch dann hatte ich ein Vor-Bild, das mir das gezeigt hat: „Ja, auch mit deiner Schwäche bist du genau richtig, wie du bist. Ich liebe dich trotzdem.“

Das Wichtigste an dem letzten Satz für mich ist das Wort „gezeigt“. Wenn ich etwas sehe und spüre, fällt es leichter, es zu verinnerlichen, weil mitgeliefert wird, wie das aussehen kann und wie es sich anfühlen kann. Höre ich nur Worte, muss ich viel selbst aus mir heraus erarbeiten, um das passende Bild dazu entstehen zu lassen. Bekomme ich eines angeboten, kann ich es verfeinern und anpassen auf mich und mein Leben, um es tief gehen zu lassen und um es mir zu eigen zu machen.

Je nach Reife einer Person mag es ihr leichter oder schwerer fallen, selbst Bilder zu finden oder aus wenigen Informationen ein für sich passendes zu gestalten. Insbesondere im Bereich des Verhaltens und Umgangs miteinander, ist Vor-Bild sein wichtig. Reagiert ein Mensch aggressiv oder teilnahmslos auf Begebenheiten, fehlt ihm vielleicht einfach ein Bild, um überhaupt anderes reagieren zu können. Wer nie erlebt hat, gesehen hat, dass es auch anders geht – woher soll er dieses Bild des guten Umgangs, des Mitgefühls haben?

Bietet man dieses Bild an und gibt dem Menschen Gelegenheit es zu üben, im Vergleich zu seinen alten Bildern und Verhaltensmustern zu bewerten, es zu verinnerlichen und sich zu eigen zu machen, versetzen wir diesen Menschen überhaupt erst in die Lage, sich anders zu verhalten.

Im Alltag

Vorbild zu sein ist für mich von etwas Großem, Unerreichbaren zu etwas geworden, was ich mir zutraue. Ich muss kein perfektes Leben haben und keine perfekte Person sein, um Vorbild zu sein. Ich bin in jedem Moment Vor-Bild, indem ich mich verhalte, wie ich mir gutes Verhalten von anderen wünsche. Indem ich versuche zu zeigen, dass mir der andere wichtig ist und dass mir seine Wertschätzung ebenfalls viel bedeutet. Indem ich andere Verhaltensmöglichkeiten anbiete und erkläre, wenn ich sehe, dass der andere nur ein lebensunfreundliches Bild als einzige Lösung zur Verfügung hat. Oder indem ich ihn einfach so stehen lasse, weil ich sehe, dass er im Moment einfach keine bessere Idee hat und ich ihm in dieser Situation gerade keine anbieten kann.

Das meiste davon kostet wenig Kraft, sondern erfordert nur ein wenig Aufmerksamkeit. Der Lohn folgt ja meist auch gleich, wenn der andere mir ein Lächeln schenkt – oder zumindest ein Streit gar nicht erst entsteht.

So bekam „Vor-Bild sein“ für mich einen neuen Glanz und begleitet mich jetzt mit der Frage: „Kann ich diesem Menschen ein lebensfreundliches Bild schenken?“ Und diese Frage stellt sich mir nicht nur in Beziehung zu anderen, sondern auch und nicht weniger selten in meiner Beziehung zu mir selbst.

Vielleicht hört ihr jetzt auch ab und zu eine innere Stimme tief in euch, wenn ihr euch über jemanden ärgert oder traurig seid, weil eine Reaktion nicht so ausgefallen ist, wie ihr sie euch erhofft habt:
„Er hat einfach keine bessere Idee im Moment …“

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